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Wie Exoskelette im OP Ärzte entlasten und Patienten schützen können

Hirntumoroperationen verlangen äußerste Präzision. Jede kleine falsche Bewegung des Operateurs kann eine zusätzliche Schädigung des Gehirns des Patienten bedeuten. Bislang wurden Chirurginnen und Chirurgen mit diesem Problem alleingelassen, sie müssen häufig stundenlang über den Patienten gebeugt stehen, bekommen selbst Muskel- oder Rückenprobleme. Das wollen Sabrina Hellstern und Claudia Sodha ändern.

Die beiden Gründerinnen von Hellstern Medical haben zusammen mit Ärzten und Ingenieuren das weltweit erste sensorgesteuerte Exoskelett entwickelt, das Chirurgen während der Operation unterstützt.

Ärzte setzen ein ergonomisches Tragesystem, das an einem Metallgestell befestigt ist, wie einen Rucksack auf. Das Gestell stützt den gebeugten Oberkörper, der Rücken wird entlastet. Dank ausgefeilter Sensorik und Software folgt das System dem Operierenden in jede gewünschte Position. Gleichzeitig haben sie die Hände für die OP frei.

Für Patienten lebensgefährliche Operationen dauern häufig viele Stunden. Chirurginnen und Chirurgen sind erschöpft und arbeiten in verdrehten Zwangshaltungen. Dadurch können Muskel- oder Skeletterkrankungen entstehen, die auf Dauer die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. „Gesetzlich steht den Operierenden ein ergonomischer Arbeitsplatz zu“, sagt Sabrina Hellstern. „Die Wirklichkeit sieht aber anders aus.“

Viele Ärzte nehmen selbst Schmerzmittel, um den Operationsalltag zu überstehen. Hellstern spricht gar von 40 Prozent aller operierenden Chirurgen. Mit Claudia Sodha hat sie eine andere Lösung entwickelt: das Exoskelett. Finanziell haben die Gründerinnen bereits erste Erfolge, am Uni-Klinikum in Tübingen etwa verwendet man das Gerät. Aber die Investition ist noch hoch. Die Gründerinnen weiten nun stark ihren Vertrieb aus.

Das Gestell stützt den gebeugten Oberkörper, der Rücken wird entlastet. Gleichzeitig sind die Hände für die OP frei. Quelle: Hellstern medical
Das Gestell stützt den gebeugten Oberkörper, der Rücken wird entlastet. Gleichzeitig sind die Hände für die OP frei. Quelle: Hellstern medicalExoskelett für OperationenDas Gestell stützt den gebeugten Oberkörper, der Rücken wird entlastet. Gleichzeitig sind die Hände für die OP frei.(Foto: Hellstern medical)

„Wir haben bereits die erste Herzoperation erfolgreich hinter uns“, sagt Hellstern. Sie hat jahrelang im Vertrieb für Medizintechnik gearbeitet, pflegt gute Kontakte in die Kliniken und kennt die Nöte vor Ort. „Ärzte haben uns gefragt, ob man so etwas nicht entwickeln kann“, sagt Hellstern. Einer von ihnen ist der Chef der Tübinger Kinder-Neurochirurgie Martin Schuhmann. Er zählt sich zu den schmerzgeplagten Opfern der Arbeitsbedingungen und gehört zum Hellstern-Gründerteam aus sechs Personen.

Medizintechnik für den OP-Saal: Exoskelett ist weltweit patentiert

Ärzte wie Schuhmann bei Operationen zu entlasten sei schon seit Jahrzehnten überfällig, sagt Hellstern. Umso schneller ist der Prototyp mit dem Namen „Noac“ entstanden: Das Gerät wurde laut Angaben der Gründerinnen in nur 15 Monaten gemeinsam mit zwei Ingenieuren und zwei Chirurgen entwickelt. Mittlerweile ist es weltweit patentiert und als Medizinprodukt zertifiziert.

Operierende setzen die Gurte wie einen Rucksack auf und werden vom Metallgestell gestützt. Dadurch wird der Rücken bei stundenlangen OPs entlastet. Quelle: Hellstern medical
Operierende setzen die Gurte wie einen Rucksack auf und werden vom Metallgestell gestützt. Dadurch wird der Rücken bei stundenlangen OPs entlastet. Quelle: Hellstern medicalErgonomisches TragesystemOperierende setzen die Gurte wie einen Rucksack auf und werden vom Metallgestell gestützt. Dadurch wird der Rücken bei stundenlangen OPs entlastet.(Foto: Hellstern medical)

Einige der Komponenten von Noac sind beim Maschinenbauer Brecht im kleinen Wannweiler Gewerbegebiet zwischen Reutlingen und Tübingen entstanden. Das Tragesystem wurde vom Rucksackspezialisten Deuter entwickelt. „Der Name ist eine Abkürzung für ‚no ache‘ – kein Schmerz“, erklärt Gründerin Hellstern.

Wenn die 40-Jährige über die Arbeitsbedingungen im OP redet, wirkt sie, als spräche sie aus eigener Erfahrung als Ärztin. Um das Projekt vor vier Jahren zu beginnen, verkaufte die Mutter zweier Kinder sogar das Familienauto und nahm eine Hypothek auf ihr Haus auf.

„Dieser Schritt stand für mich nie zur Diskussion“, erklärt sie. „Wenn ich mit 80 Jahren zurückblicke, wird dieses persönliche Risiko ganz klein aussehen im Vergleich dazu, ein riesiges Problem gelöst und damit Menschenleben gerettet zu haben.“

Hellstern Medical: Nächste Finanzierungsrunde läuft

Ihre Mitgründerin Claudia Sodha ist als CFO für die Finanzen verantwortlich. Die 59-Jährige ist Ingenieurin und erfahrene Unternehmensberaterin. 2021 hat Hellstern Medical eine Seed-Finanzierung in Höhe von 3,3 Millionen Euro abgeschlossen.

Auch den baden-württembergischen Gründerpreis haben die beiden Unternehmerinnen bereits 2019 gewonnen. Nun läuft die nächste Finanzierungsrunde über weitere drei Millionen Euro. Das Geld wird für den Vertriebsaufbau im In- und Ausland gebraucht.

Aktuell sind Hellstern und Sodha fast täglich in einer anderen Klinik, um ihr erstes serienreifes Gerät Operateure ausprobieren zu lassen. Denn die Nachfrage muss aus dem OP kommen. Nur auf Druck ihrer Ärzte bestellen Kliniken solche neuen Geräte. „Es gibt schon zahlreiche Interessenten“, versichert Hellstern.

Am Uni-Klinikum in Tübingen zum Beispiel wird Noac schon eingesetzt. Volker Steger, Facharzt für Herzchirurgie und Leiter der Thoraxchirurgie in Tübingen, sagt: „Eine Bandscheibe musste ich schon lassen. Ein Unterstützungssystem würde nicht nur mir helfen, sondern wäre auch ein Wettbewerbsvorteil für das Klinikum.“ Seine Kollegen Silvio Nadalin, Leiter des Transplantationszentrums, oder Sara Y. Brucker, Ärztliche Direktorin in der Abteilung für Frauengesundheit, setzen das Exoskelett bereits aktiv im OP ein.

Chirurginnen und Chirurgen sind erschöpft und arbeiten oft stundenlang in verdrehten Zwangshaltungen. Das wollen die Gründerinnen ändern. Quelle: Hellstern medical
Chirurginnen und Chirurgen sind erschöpft und arbeiten oft stundenlang in verdrehten Zwangshaltungen. Das wollen die Gründerinnen ändern. Quelle: Hellstern medicalExoskelett im Einsatz bei einer OPChirurginnen und Chirurgen sind erschöpft und arbeiten oft stundenlang in verdrehten Zwangshaltungen. Das wollen die Gründerinnen ändern.(Foto: Hellstern medical)

Wie groß der Erfolg am Markt sein wird, muss sich noch zeigen. Immerhin muss es genügend lange Operationen geben, damit sich die Anschaffung für eine Klinik lohnt. Denn günstig ist das Exoskelett nicht. Die Geräte werden zwischen 80.000 und 100.000 Euro kosten. Um den Klinikbetreibern die Entscheidung zu erleichtern, können sie auch für 1500 Euro im Monat geleast werden.

„Wir wollen mit Noac so viel Geld verdienen, dass wir unsere nächste Idee finanzieren können“, sagt Sabrina Hellstern. Und weitere Ideen, die Arbeit der Ärzte zu erleichtern, hat die Gründerin genug: „Ich möchte der cerebralen Autoregulationsmessung zum Durchbruch verhelfen.“ Das heißt, sie will die Überwachung und Steuerung der Sauerstoffversorgung des Gehirns bei Operationen verbessern. „Unser oberstes Ziel ist es, Menschenleben zu retten“, betont sie.

Quelle: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/familienunternehmer/sabrina-hellstern-claudia-sodha-wie-exoskelette-im-op-aerzte-entlasten-und-patienten-schuetzen-koennen/29100758.html

Tom Illauer

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