Kostenfreie Beratung:
(Mo. – Fr.: 09:00 - 18:00 Uhr)

Technische Hilfsmittel wie aus Science-Fiction-Filmen verändern die Arbeitswelt

Diese kleinen Geräte werden auch Exoskelette genannt. Sie sind an den Körper der Leute geschnallt und helfen ihnen, schwere Lasten zu heben.

Selbstversuch an der Heckklappe eines Autos: Am Fließband müssen die Arbeiter oft stundenlang über Kopf arbeiten.

Selbstversuch an der Heckklappe eines Autos: Am Fließband müssen die Arbeiter oft stundenlang über Kopf arbeiten.Emmanuele Contini

Auf den ersten Blick haben Horst Schlämmer und „Krieg der Sterne“ nichts miteinander zu tun. Das eine ist die bekannteste Kunstfigur des deutschen Komikers Hape Kerkeling. Schlämmer ist ein Mann mit Walrossbart und brachialem 80er-Jahre-Humor, mit Rückenproblemen und Schnappatmung. Quasi ein Mann aus der Vergangenheit. Das andere ist die berühmteste Science-Fiction-Reihe des Weltkinos, vollgestopft mit verrückter Technik. Quasi ein Blick in eine mögliche Zukunft.

Das beides passt durchaus zusammen, wenn es darum geht, ein Hauptproblem der modernen Arbeitswelt anzugehen. Denn der Satz: „Ich habe Rücken“ ist nicht nur der Running Gag von Horst Schlämmer. Der Spruch wurde in unserer Wohlstandswelt auch deshalb zum geflügelten Wort, weil er Ausdruck einer Volkskrankheit ist. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz hat die Zahlen: Die Berufstätigen sind in Deutschland im Schnitt 17 Tage pro Jahr krank, das sorgt für 700 Millionen nicht geleistete Arbeitsstunden. Der Produktionsausfall wird auf fast 87 Milliarden Euro geschätzt. Und ein Viertel aller Krankschreibungen geht auf Schäden im Bewegungsapparat zurück – meist am Rücken oder den Schultern.

Viel Krieg, viele Versehrte: Was Berliner Prothesenbau mit Ukrainern zu tun hat

Und da kommt „Krieg der Sterne“ ins Spiel, als Sinnbild der Science-Fiction-Welt, in der es oft darum geht, die Menschheit mit genialer oder fieser Technik zu unterwerfen oder zu retten. Dort schlüpfen die Menschen auch mal in riesige Ein-Personen-Kampfmaschinen. Die wirken wie ein mächtiger Panzer, ganz so wie das äußere Skelett von Insekten, das auch Exoskelett genannt wird. Die Maschinen dienen den Menschen als schlagkräftige Verlängerungen ihrer Arme und Beine. Mit ihrer Hilfe können die kleinen Menschen nun riesengroße Dinge heben – ganz ohne „Rücken“.

Da stellt sich die Frage, ob es solche Exoskelette bereits in der Realität gibt und ob sie den Schwerstarbeitern tatsächlich den Arbeitsalltag erleichtern?

Eine Milliarde Umsatz pro Jahr

Die Antwort führt in die schön nostalgisch sanierte frühere Bötzow-Brauerei in Berlin-Prenzlauer Berg. Auf einem weißen Tisch liegt dort ein Hightechgerät. „Das ist ein reales Exoskelett, wie es etwa in der Autoindustrie eingesetzt wird“, sagt Janos Joskowitz von der Firma Ottobock.

Das ist ein weltweit führendes Unternehmen, wenn es um Prothesen geht. Bock gründete die Firma in Berlin kurz nach dem Ersten Weltkrieg, aus dem Hunderttausende Kriegsversehrte ohne Arme und Beine heimkehrten. Bock versorgte sie mit Ersatzstücken. Mit Prothesen setzt das Unternehmen heute pro Jahr etwa eine Milliarde Euro um und will seit 2018 auch auf dem Zukunftsmarkt der Exoskelette vorn dabei sein. Mit der Firma German Bionic gehört sie zu den größten deutschen Anbietern.

Das Exoskelett wird wie ein Wanderrucksack getragen: Neben den Schultern sind biegsame „Zweitarme“, die an die eigenen Arme geschnallt werden.

Das Exoskelett wird wie ein Wanderrucksack getragen: Neben den Schultern sind biegsame „Zweitarme“, die an die eigenen Arme geschnallt werden.Emmanuele Contini

Das Exoskelett auf dem Tisch sieht stylisch aus. Das futuristische Design erinnert an Science-Fiction. Die matte, grau-schwarze Optik und die schmalen und eleganten Formen würden problemlos in Filme wie „Alien“ passen. Doch das Ding zum Auf-den-Rücken-Schnallen ist kein Kampfgerät, sondern eine Arbeitshilfe der Zukunft. Es ist ein leichtes Gerät, gerade mal zwei Kilo schwer.

Janos Joskowitz ist Exoskelett-Experte bei Ottobock und erklärt, dass es zwei klassische Einsatzgebiete gibt: zum einen, wenn die Belegschaft schwer heben muss. „Sowie Branchen, in denen die Leute viele Überkopfarbeiten machen müssen“, sagt Joskowitz und erzählt von Mechanikern, die das Innere von Flugzeugen ausstatten, von Handwerkern, die Löcher in Decken bohren, oder von Mechanikern, die im Schacht unter dem Auto am Bodenblech schrauben.

Die Probleme: Schwer heben, lange sitzen, zu viel stehen

Das Arbeiten gehört weiterhin zu den großen Gefahren für die Gesundheit. Es heißt zwar landläufig, dass die meisten Unfälle im Haushalt passieren, aber der alltägliche Verschleiß des Bewegungsapparats entsteht durch die Monotonie schwerer Arbeit, durch ständig falsche Bewegungen oder Überlastung.

Die Hälfte aller Bauarbeiter sagt laut einer Umfrage der Gewerkschaft: Der Arbeitsalltag schlaucht so sehr, dass sie nach Feierabend keine echte Lebensqualität mehr haben. Sie haben „Rücken“, weil sie zu viel buckeln, genau wie Lagerarbeiter oder Waschmaschinenmonteure. Bei Fliesenlegern sind kaputte Knie längst als Berufskrankheit anerkannt. Andere haben „Rücken“, weil sie zu lange stehen, wie Lehrerinnen oder Verkäuferinnen. Aber auch viele Leute, die nur am Computer arbeiten, leiden an Rückenproblemen, weil sie viel zu viel sitzen: Bürokräfte, Kassiererinnen, Zahnärzte, Busfahrer. Andere haben „Schulter“, weil sie zu viel Überkopf arbeiten, wie Schweißer in Schiffswerften. „Oder eben Autobauer, die am Fließband mit erhobenen Armen lange Zeit monotone Arbeiten verrichten“, sagt Joskowitz.

Er hat da mal etwas aufgebaut für den Selbstversuch. Vor der weißen Wand steht ein Gestell, an dem die offene Kofferraumklappe eines Autos hängt. Die Arbeiter am Fließband müssen stundenlang dicke Kabelbündel in der Tür einbauen. Schon nach kurzer Zeit, kribbelt es in den Armmuskeln. Ermüdungserscheinungen. Es ist wie beim Streichen der Zimmerdecke. Also schnell den Arm wieder hängen lassen.

Kann nun dieses stylische Ding tatsächlich helfen? Das Exoskelett wird getragen wie ein Rucksack. Der Bauchgurt wird gut verschlossen, ebenso der Brustgurt. Das Gerät ist so leicht und flexibel, dass kaum etwas zu merken ist. Nur im Augenwinkel ragt links und rechts neben den Schultern etwas langes Schwarzes empor. Das sind flexible Stangen, biegsam wie Glasfieber. Also diese elastischen Zusatzarme einfach herunterbiegen und den Oberarm daran festschnallen. Nun bleiben die Arm oben, ganz ohne Mühe.

Auch Gehirnchirurgen nutzen die Technik

„Zum einen wird das alte Prinzip des Wanderrucksacks genutzt“, sagt Joskowitz. „Es geht um die Umverteilung von Energie: Die Belastung und das Gewicht werden auf den stärksten Knochen verlagert und umverteilt, den wir haben: die Hüfte.“ Dazu komme ein zweiter Wirkmechanismus: eine Art Energiespeicher in den Federn am Rücken. „Lege ich das Gerät an, führe ich durch meine Armbewegungen Energie in das System ein, die dann beim Arbeiten wieder freigegeben wird.“ Es sei ein geschlossenes Kraft-Kreislauf-System. „Wie bei einer Waage. Wenn da auf beiden Seiten 200 Kilo sind, ist auf der einen Seite nur noch ganz wenig zusätzliche Energie nötig, um die andere Seite nach oben zu bewegen.“

Es funktioniert tatsächlich: Das Gewicht der Arme ist quasi verschwunden. Kein Ermüden mehr an der Heckklappe. Es kostet sogar Kraft, die Arme ganz nach unten zu drücken. Mit dem Exoskelett läuft man wie ein halbstarker Jugendlicher – als hätte man Rasierklingen unter den Achseln.

Schwer heben müssen die Mitarbeiter bei Paketzustellern oder in Lagern. Es gibt auch Hilfsgeräte, die tatsächlich wirken.

Schwer heben müssen die Mitarbeiter bei Paketzustellern oder in Lagern. Es gibt auch Hilfsgeräte, die tatsächlich wirken.Emmanuele Contini

Aber die Exoskelette sind nicht dafür da, Leuten zu helfen, die schon „Rücken“ haben. „Sie sollen bei bestimmten Arbeiten vorsorglich eingesetzt werden, damit die Mitarbeitenden gar nicht erst Rücken bekommen“, sagt Joskowitz.

Er hat noch weitere Einsatzgebiete: Käselaibe umstapeln, Garnrollen an Webstühle hängen, Obstbäume schneiden. „Auch die Künstler der Augsburger Puppenkiste nutzen solche Geräte“, sagt er. Sie müssen mit ihren Puppen ständig über Kopf arbeiten. Und es gibt sehr filigrane Arbeiten, bei denen äußerstes Fingerspitzengefühl nötig ist und bei denen die Arme nicht ermüden dürfen – auch nicht nach Stunden. „Ein Gehirnchirurg aus Göttingen nutzt diese Technik.“

Die Lebensarbeitszeit verlängert sich auch

Es gibt etwa 100 kleine und große Hersteller weltweit, in Deutschland sind mehr als 10.000 Geräte im Einsatz. Die Testvariante kostet bei Ottobock ab 1900 Euro. Über den Einsatz reden viele Firmen nicht gern, weil sie damit eingestehen, dass die Arbeit bei ihnen hart ist.

Die heimische Arbeitswelt ist inzwischen vor allem eines: eine Welt des Notstandes. Es herrscht nicht nur ein gravierender Mangel bei spezialisierten Facharbeitern, auch körperlich harte Arbeiten sind nicht beliebt. Es stehen auch keine Heere von Arbeitslosen mehr bereit, die fast jede Arbeit machen würden. Auch Frauen gehen heute lieber in Bürojobs, als acht Stunden im Frisiersalon zu stehen und sich den Rücken zu ruinieren.

„Die Arbeitswelt hat sich drastisch gewandelt“, sagt Urs Schneider aus Stuttgart. Der 51-Jährige kennt sich in der Welt der technischen Hilfsmittel im Arbeitsalltag aus. Er arbeitet am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung. „Die Arbeitswelt war lange von schwarzer Pädagogik geprägt“, sagt er. „Es galt das Motto: Hab du es als Lehrling erst mal so schwer wie ich damals. So, jetzt fegst du den Hof.“ Lange gab es auch einen eigenwilligen Stolz bei Leuten, die hart zupacken mussten. Egal, ob sie sich als Bergleute in der DDR beim Uran-Abbau in der Wismut wissentlich die Gesundheit versauten oder als Kohlekumpel im Ruhrpott. „Heute steht nicht mehr nur das Gehalt im Mittelpunkt, sondern die Lebensqualität“, sagt Schneider. „Heute gibt es ein anderes Menschen- und Gesellschaftsbild, und da wird zum Glück auch über Fragen der Gesundheit der Belegschaft anders diskutiert.“ Außerdem gebe es klare Vorgaben vom Arbeitsschutz.

Das kleinste Exoskelett der Welt: Es kommt über die Fingerkuppe und hilft, wenn jemand etwas stundenlang irgendwo hineinstopfen muss.

Das kleinste Exoskelett der Welt: Es kommt über die Fingerkuppe und hilft, wenn jemand etwas stundenlang irgendwo hineinstopfen muss.Emmanuele Contini

Schneider leitet am Fraunhofer-Institut den Gesundheitsbereich mit 70 Wissenschaftlern, er lehrt an der Uni und forscht schwerpunktmäßig in der Biomechatronik. Dabei geht es um Mensch-Technik-Lösungen wie Prothesen, Rollstühle oder die Verbesserung von OP-Verfahren, damit die Patienten hinterher eine bessere Funktionalität haben. Schneider forscht auch zu Exoskeletten.

„Solche Hilfsmittel sind kein Zeitgeistschnickschnack, keine teure Nutzlosigkeit“, sagt er. Denn zum Fachkräftemangel komme noch eine weitere Entwicklung. „Weil der Nachwuchs fehlt, der in die Rentenkassen einzahlt, müssen alle immer länger arbeiten.“ Auch deshalb gibt es im Büro nun ergonomische Stühle oder höhenverstellbare Schreibtische oder Exoskelette im Paketlager.

Doch bislang fehlt es an wissenschaftlichen Studien, ob ein Nutzen tatsächlich nachweisbar ist. „Nun gibt es eine große internationale Zusammenarbeit von Unis“, sagt er. In einer Studie hat er die Arbeitsleistung von 60 Schweißern in Hamburg begutachtet. Einige haben 60 Minuten lang gearbeitet wie immer, andere trugen verschiedene Typen von Exoskeletten.

Nur das letzte Mittel

„Das Ergebnis war eindeutig: Die Schweißer mit den Exoskeletten haben gesagt, dass die Arbeit weniger anstrengend war, außerdem waren auch die Arbeitsergebnisse klar besser.“

Urs Schneider sagt, dass solche Hilfsmittel nur die letzte Option sind. Er erklärt, dass in vielen Branchen inzwischen das TOP-Prinzip gilt, um Gesundheitsschäden zu minimieren. Das Kürzel steht für Technik–Organisation–Person. Erst wird geschaut, ob Technik hilft, zum Beispiel kleine Hebekräne beim Pakete-Sortieren. Sollten die zu langsam oder unhandlich sein, wird geschaut, ob die Arbeitsorganisation so geändert wird, dass die Pakete vielleicht so angeliefert werden, dass sie nicht mehr gehoben werden müssen. „Im besten Fall reichen Veränderungen in Punkt 1 oder 2, damit die Leute am Ende ihres Arbeitstages nicht fix und fertig sind“, sagt Schneider. Erst wenn beides nicht fruchtet, würden Hilfsmittel wie Exoskelette an die Körper gehängt.

In der ehemaligen Bötzow-Brauerei folgt nun der zweite Selbstversuch: das Heben schwerer Lasten. Das zweite stylische schwarze Etwas ist deutlich größer. Es unterstützt nun aber nicht die Kraft der Arme, sondern ist vor der Brust platziert. Ich gehe in die Hocke, die dabei anfallende Energie wird in einer Gasdruckfeder gespeichert, und als ich die Holzkiste hebe, gibt die Feder die Energie frei. Es ist, als würde jemand sanft, aber sehr bestimmt gegen meine Brust drücken. Die Kiste ist leicht.

Klein, aber schwer ist die Kiste eigentlich: Doch mit diesem Exoskelett ist sie deutlich leichter.

Klein, aber schwer ist die Kiste eigentlich: Doch mit diesem Exoskelett ist sie deutlich leichter.Emmanuele Contini

Janos Joskowitz lächelt und zeigt auf einen schwarzen Fingerhut. „Das ist das kleinste Exoskelett der Welt“, sagt er. Für die Fingerkuppe. Es hilft, wenn jemand etwas stundenlang mit dem Finger irgendwo reinstopfen muss.

Urs Schneider erzählt, dass die Ideen tatsächlich aus den 1960er-Jahren stammen, als auch die Science-Fiction-Filme ihren Siegeszug begannen. „In den 80er- und 90er-Jahren wurde in Japan viel in der Autoindustrie ausprobiert“, sagt der Wissenschaftler. Nun sind viele Entwicklungen marktreif. „Wir rechnen damit, dass solche Systeme am Markt ab etwa 2025 so richtig abheben.“ Das Interesse wachse. Die Geräte bekommen auch noch mitdenkende Elektronik oder kleine Unterstützungsmotoren. „Die Entwicklung ist noch ziemlich am Anfang“, sagt Schneider. Die Forschung sei jetzt etwa an dem Punkt, an dem das Auto so um 1890 war. „Aber diese Neuerungen haben das Potenzial, die Arbeitswelt positiv zu verändern.“

30.11.2022: Quelle Technische Hilfsmittel wie aus Science-Fiction-Filmen verändern die Arbeitswelt (berliner-zeitung.de)

Tom Illauer

Alle Beiträge von: 
de_DEGerman